UX-Reifegrad: Braucht es wirklich so viele unterschiedliche Modelle?

Die Welt strebt nach Menschzentrierung. Egal ob Versicherungs-, Industrie-, Bau- oder Softwarebranche – alle möchten die (digitale) Produktentwicklung in Zukunft frühzeitiger, stärker und systematischer an die Anwenderbedürfnisse und den Nutzungskontext ausrichten.

Die voranschreitende Digitalisierung, die Geschwindigkeit dieses Wandels und die immer heterogenere Anwenderschaft zwingen Unternehmen dazu. Das Marktumfeld und unsere Lebenswirklichkeit verändern sich kontinuierlich und immer schneller. Wer innovative Produkte erfolgreich am Markt platzieren will, muss Agilität und UX eine zentrale Bedeutung einräumen.

Die Herausforderung besteht – wie so häufig – im Veränderungsprozess hinsichtlich der Arbeitsweise. Wie lassen sich Entwicklungsteams unterschiedlicher Größe menschzentrierter ausrichten? Wie geht eigentlich “menschzentrierte digitale Produktentwicklung”?

Bei der Veränderung sollen UX-Reifegradmodelle (UX maturity models) helfen. Doch wie tun sie das? In diesem Artikel erfahren Sie…

Was ist ein UX-Reifegradmodell?

Wenn wir von der UX-Reife sprechen, geht es dabei um das Ausmaß der Integration von Human Centered Design Methoden. Vereinfacht gesagt ist die UX-Reife davon abhängig, welchen Stellenwert Nutzerzentrierung und UX in der Kultur, den Prozessen, den Technologien und in den Köpfen der Mitarbeitenden und Stakeholder einnimmt.

Bei der Reifegrad-Analyse bewerten wir anhand fester Kriterien, wie reif eine Organisation in Bezug auf User Experience ist.

Daraufhin erfolgt die Einordnung auf eine entsprechende Stufe, um die vorhandene UX-Fähigkeiten & das Bestreben nach Veränderung widerzuspiegeln. Im Weiteren bieten UX-Reifegradmodelle Ansätze, strukturierte Maßnahmen für den weiteren Weg abzuleiten, um alle Stufen bis hin zu einer User Driven Company zu erklimmen.

Wozu dienen HCD-Reifegradmodelle?

Die Beschäftigung mit UX-Reifegradmodellen hilft uns bei der systematischen Auseinandersetzung mit der UX-Reife. Konkret liefern UX-Reifegradmodelle Erkenntnisse zu:

  • Der Einschätzung des aktuellen Status-Quo hinsichtlich Menschzentrierung in der Produktentwicklung / in der Organisation
  • Der Definition von (messbaren und konkreten) Zielen hinsichtlich der Menschzentrierung in der Organisation
  • Der Identifikation von Ansatzpunkten zur Steigerung der menschzentrierten Aktivitäten, bzw. des HCD-Reifegrads
  • Dem transparenten Aufzeigen von und dem Bekenntnis zu einer Veränderungsbereitschaft der Stakeholder und der Organisation
  • Der Systematisierung und Steuerung der Aktivitäten zur UX-Reifegradsteigerung
  • Der Bewertung von Aktivitäten und Maßnahmen zur UX-Reifegradsteigerung
  • (der Bewertung und Auswahl von Lieferanten)

Welche Reifegrad-Modelle gibt es?

Kurz gegoogelt – und schon überfordert, denn es gibt nicht das eine UX-/HCD-Reifegradmodell. Es gibt 4-stufige, 5-stufige- und 6-stufige Modelle. Es gibt einfache und komplexe. Es gibt Ansätze von bekannten Autoren, UX-Gurus und renommierter Organisationen und Verbänden.

Auch wenn sich viele Inhalte zwischen den Reifegradmodellen wiederholen, ist es sinnvoll sich mit einer Handvoll ausgewählter Modelle zu beschäftigen. Die Details und die kleinen, aber relevanten Unterschiede helfen, ein Verständnis und Überblick über unterschiedliche Sichtweisen und Facetten von UX-Reife zu erhalten. Im folgenden Abschnitt erhalten Sie eine Auswahl und Überblick über die gängigsten Modelle. Nehmen Sie sich die Zeit, sie ist gut investiert.

Das UX-Maturity Modell nach Nielsen Norman

Eines der ältesten Modelle stammt aus dem Jahr 2006 und startete ursprünglich mit 8 Stufen (Maturity-Stages). Dass sich die Art und Weise, wie digitale Produkte entwickelt werden, seitdem maßgeblich verändert haben, versteht sich von selbst. Die Erfahrungen bei der Anwendung des Modells haben zu einigen Anpassungen am Modell geführt. Die aktuelle Version von 2021 basiert nun auf 6 Reifegradstufen:

 StufeBeschreibung
1.AbsentUX wird ignoriert oder ist nicht vorhanden.
2.LimitedUX-Arbeit ist selten, wird willkürlich durchgeführt und hat keine Bedeutung.
3.EmergentDie UX-Arbeit ist funktional und vielversprechend, wird aber inkonsequent und ineffizient durchgeführt.
4.StructuredDie Organisation verfügt über eine semisystematische UX-bezogene Methodik, die weit verbreitet ist, aber mit unterschiedlichem Grad an Effektivität und Effizienz.
5.IntegratedDie UX-Arbeit ist umfassend, effektiv und allgegenwärtig
6.User-drivenDas Engagement für UX auf allen Ebenen führt zu tiefgreifenden Erkenntnissen und außergewöhnlichen benutzerzentrierten Design-Ergebnissen.

Das umfangreiche Framework zeichnet sich unter anderem durch seine übersichtliche Strukturierung der Bewertungskriterien aus. Diese gliedern sich in die übergeordneten Dimensionen: Strategie, Kultur, Prozesse und Ergebnisse. Im Rahmen dieser lassen sich die Stärken und Schwächen im Bereich User Experience übersichtlich bewerten und die aktuelle Reife/Stufe ableiten. Hervorgehoben wird, dass alle Faktoren im gemeinsamen Zusammenspiel wirken und sich gegenseitig verstärken.

Darüber hinaus beschreiben die Autoren exemplarisch, wie ein Unternehmen von Stufe zu Stufe vorankommt und mit welchem Aufwand gerechnet werden kann. Ausführliche Informationen und Infografiken finden Sie im NNGROUP-Artikel „The 6 Levels of UX Maturity“.

Das UX Maturity Model des UXQB

Auch das International Usability & User Experience Qualification Board (UXQB) beschreibt in seinem Curriculum zum neuen UX-Zertifizierungslehrgang „CPUX-M - Essentials in UX and HCD-Management” ein eigenes 6-stufiges Reifegradmodell (siehe CPUX-M Curriculum).

Etwas vereinfacht werden die Stufen wie folgt beschrieben:

 StufeBeschreibung
1.Incomplete
  • Keine HCD-Aktivitäten.
  • Die Gestaltung basiert ausschließlich auf Meinungen und Beschwerden.
  • Es gibt kein offizielles Budget für HCD.
2.Performed
  • HCD-Aktivitäten werden ad hoc durchgeführt, sie werden nicht im Voraus geplant
  • Manchmal bleibt wenig oder gar keine Zeit, um die Ergebnisse der menschenzentrierten Forschung anzuwenden
3.Managed
  • Bei einigen Projekten werden die HCD-Aktivitäten vor Projektbeginn geplant und der Plan wird befolgt und überwacht; bei Bedarf wird der Plan angepasst.
  • Es gibt ein Budget für UX.
  • Es gibt Styleguides, und einige Projekte halten sich an sie.
4.Established
  • Alle Projekte halten sich an das Menschzentrierte Qualitätssystem
  • Der HCD-Prozess ist einheitlich. Eine Anpassung des HCD-Prozesses an spezifische Bedürfnisse ist möglich.
  • Die Organisation verbessert den HCD-Prozess auf der Grundlage von Beiträgen der Interessengruppen.
5.Predictable
  • KPIs werden verwendet, um den Erfolg und die Qualität eines Produkts zu definieren und zu messen.
  • Korrekturmaßnahmen werden ergriffen, wenn eine Kennzahl die vereinbarten qualitativen oder quantitative Anforderungen nicht erfüllt.
  • Produkte werden nur dann freigegeben, wenn sie die vereinbarten Anforderungen erfüllen.
6.Innovating
  • Entscheidungen und Maßnahmen der Organisation beruhen auf User Research und einer aktiven Einbeziehung der Nutzer.
  • Menschzentrierte Qualitätsziele und Strategien sind auf Geschäftsziele abgestimmt.

Steigende UX-Reife geht in diesem Modell primär mit 2 Faktoren einher: Dem Verständnis von HCD und dem Grad der Implementierung eines systematischen HCD-Prozesses. Je höher beide Faktoren, und je stärker HCD zur Erreichung von Geschäftszielen eingesetzt wird, desto reifer das Unternehmen.

Ergänzend spielen Qualifikation und Entwicklungsmöglichkeiten von UX Professionals, sowie die Art und Weise der Zusammenarbeit mit den Teams eine Rolle bei der Einschätzung der UX-Reife. Zusätzlich hervorzuheben ist der Hinweis, dass ein neutraler UX-Experte zur Erhebung des Reifegrads notwendig ist, um eine unbefangene Erhebung wie z.B. in Stakeholder-Interviews zu gewährleisten.

Ein wesentlicher Unterschied zum Modell von Nielsen Norman zeigt sich auf der letzten Stufe. Während im UXQB die Entscheidungsfindung und die Synchronisation mit geschäftlichen Zielen im Vordergrund steht, sind es im NN/g Modell inhaltliche Aspekte: tiefgreifende Erkenntnisse und außergewöhnliche Nutzererlebnisse.

Das Corporate Customer & User Experience Maturity Model (CUXM)

Ulf Schubert hat das CUXM federführend entwickelt und hier veröffentlicht: Das Corporate C&UX Maturity Model ist ein community-basiertes Reifegradmodell von UX Professionals für UX Professionals und wurde zuletzt im Jahr 2021 aktualisiert. In der kollaborativen Entwicklung liegt eine offensichtliche Stärke: Das erarbeitete Rahmenwerk basiert auf der Erfahrung diverser, erfolgreicher UX-Experten und Best Practices erfolgreicher Unternehmen.

Im Unterschied zu beiden vorherigen Modellen spielt der Begriff Customer Experience eine deutlich relevantere Rolle. Er taucht sowohl im Titel als auch auf den einzelnen Stufen auf. Das verdeutlicht die notwendige enge Verzahnung von CX und UX (bzw. die die Notwendigkeit einer noch übergeordneten Betrachtungsweise i.S.d. Menschzentrierung)

Es unterscheidet ebenfalls 6 Stufen:

 StufeBeschreibung
1.Kein C & UXDas Unternehmen besitzt weder die Fähigkeit Customer Experience noch User Experience gezielt zu steuern bzw. auf Basis von Kundenerlebnissen erfolgreicher zu werden.
2.Ad HocDas Unternehmen fokussiert sich auf Kundenbeschwerden. Es gibt in einzelnen Teilen des Unternehmens unabhängige und eher zufällige Aktivitäten rund um Customer oder User Experience.
3.AufbauEs wurde damit begonnen Customer oder User Experience unternehmensweit zu koordinieren.
4.AusdehnungCustomer & User Experience ist in weiten Teilen des Unternehmens anerkannt. Es wird übergreifend koordiniert. Customer / User Experience-Initiativen liefern erste Erfolge.
5.OptimierungEs gibt eine funktionierende interne Organisation für Customer / User Experience. Das Unternehmen lernt aus Metriken zum Kundenerlebnis und optimiert die Tools, Methoden und Prozess für Customer / User Experience.
6.EtabliertDas Unternehmen lernt aus der Interaktion mit Menschen (Kunden*innen, Anwender*innen, Mitarbeiter*innen), welche Bedürfnisse und Erwartungen es gibt und welche es wie gut erfüllt. Es ist in der Lage Customer / User Experience gezielt zu steuern und sich auf Basis dieser Erkenntnisse zu verbessern. Customer & User Experience haben einen spürbaren Anteil am Unternehmenserfolg.

Erwähnenswert ist, dass die Bewertungskriterien anhand von 13 Facetten differenziert beschrieben werden. Eine detaillierte Beschreibung ginge an dieser Stelle zu weit, Interessierte können sich auf dem user-experience-blog informieren.

Das „Neue UX Maturity Modell“ von Nathalie Hanson

Der Titel-Zusatz „Neu“ trifft insofern, denn der Fokus unterscheidet sich deutlich von den vorherigen Frameworks. Diese waren der Autorin Nathalie Hansen zu detailreich, um sie in der alltäglichen Arbeit mit Kund*innen sinnvoll zu nutzen. Also entwarf sie ihr „New Maturity Model“ mit dem primären Ziel, etwas Anschauliches zu haben, um den Dialog über UX-Dienstleistungen mit ihren Geschäftspartnern zu eröffnen und den wahren Wert von UX deutlich zu machen. Ihre Message dabei: „User Experience kann eine Vielzahl von Problemen angehen, aber eine tiefere Integration ist erforderlich, um sinnvolle, messbare Veränderungen zu erreichen“. Der Integrationsgrad von UX stellt sich bei ihr in 4 Stufen dar:

 StufeBeschreibung
1.Unconscious Design
  • Entscheidungen werden indirekt/unbewusst getroffen und zeigen sich in der entwickelten Lösung
  • Kernfrage: Wer entscheidet, wie Nutzer mit einer Lösung umgehen?
2.User Interface (UI)
  • Es gibt Templates für das Design (Farben, Layouts, etc.)
  • Kernfrage: Ist die Lösung funktional und attraktiv?
3.User Experience (UX)
  • Durch Usability-Tests wird ein messbarer Impact generiert
  • Kernfrage: Kann die Lösung einen Messbaren Effekt/Mehrwert erzielen
4.End-to-End Experience
  • Tiefgehender User Research wird durchgeführt; Design Thinking Prozess wird zur Lösungsfindung herangezogen
  • Kernfrage: Wie gut passt die Lösung in den Nutzungskontext / Journey der Zielgruppe?

Dieses Modell betrachtet einen etwas größeren Rahmen als die Vorangehenden. Wir denken Nathalie Hansen hat ihr Ziel erreicht, gerade für Unternehmen/Stakeholder mit sehr wenig HCD/UX Vorwissen, kann dieser Einstieg und die resultierenden Erkenntnisse sehr hilfreich sein. Es verdeutlicht und vereinfacht z.B. den Unterschied zwischen UI-Design und UX-Design anschaulich.

Ergänzend gibt es auf der Webseite eine gute Übersicht zu weiteren UX-/Design-Maturity Modellen.

UX-Reifegrad nach Charlie Kreitzberg

Das Modell von Charlie Kreitzberg - Sr. UX Advisor @ Princeton University - wurde direkt abgeleitet von Nielsens 2006er Version der Maturity-Stages und sei der Vollständigkeit halber erwähnt.

Hervorzuheben bei seiner Darstellung ist, dass sich die Reifung der UX-Prozesse über sechs aufeinander aufbauende Ebenen vollzieht. Vorstellbar wie eine Pyramide, bei der die unterste Stufe die erste ist und sinnbildlich für die schwersten Blöcke steht. Ein Fundament, auf dem der Rest der Pyramide aufbaut. Bildlich möchte er somit auf die Zeit & Mühe auf dem Weg zu einer „Holistischen UX-Kultur“ aufmerksam machen.

Falls Sie bisher das Schlagwort “Holistische UX-Kultur” vermissen – hier finden Sie es. Weitere Details finden Sie im Artikel „UX Maturity: How good is your Organization practicing UX?“

Welches UX-Maturity Modell eignet sich am besten?

Welches nehme ich denn nun? Diese Frage ist absolut berechtigt. Welches Modell ziehe ich als UX Professional heran? Gibts es ein „richtiges“? Gibt es besser oder schlechter geeignete? Muss ich mich für eines entscheiden?

Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir uns zunächst den Zweck und die Ziele von UX-/HCD-Reifegradmodellen in Erinnerung rufen (Siehe Abschnitt „Wozu dienen Reifegrad-Modelle?“).

Wir kommen basierend auf unserer Erfahrung dann zu folgendem Schluss: Alle oben erwähnten Modelle eignen sich grundsätzlich gut zur Erreichung dieser Ziele. Zur Analyse und Steigerung des UX-Reifegrads spielt es keine entscheidende Rolle, welches Modell herangezogen wird. Die Modelle unterscheiden sich z.B. in der betrachteten Bandbreite oder der Gewichtung einzelner Themen (z.B. inwiefern UI oder CX enthalten ist, etc.). Aber: Im grundsätzlichen Aufbau und in der Interpretation von hoher UX-Reife gibt es in der praktischen Anwendung keine relevanten Unterschiede.

Die vorhandene Bandbreite an Reifegradmodellen ist nützlich und es ist gut, dass sich unterschiedliche Sichtweisen etabliert haben. So können UX Professionals das Modell auswählen, das für das Unternehmen und die aktuelle UX-Reife gut geeignet zu sein scheint.

Unser Tipp: Viel erfolgskritischer, als die Wahl des „richtigen“ Reifegradmodells, ist die fundierte Analyse des aktuellen Status-Quo. Nur dadurch lassen sich konkrete nächste Schritte und Optimierungspotentiale hinsichtlich Menschzentrierung identifizieren und umsetzen. 

Wie Sie einen Quick-Check Ihrer UX-Reife vornehmen und wie wir bei einer fundierten Reifegrad-Analyse vorgehen, erfahren Sie bald an dieser Stelle.

Doch eine Diagnose alleine bringt noch keine Heilung. Der Wille zur Veränderung muss da sein; es geht hier auch um Change Management und die professionelle Anwendung der richtigen Methoden. Hierbei begleiten wir Sie gerne!
 

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Xaver Bodendörfer
Business Unit Manager / Key Account Manager

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